"Auf diesem Platz versammelten sich am 7. November 1989 erstmalig tausende Bürger des Kreises Rathenow, um sich von der SED-Diktatur zu befreien. Den Mut hierzu gab ihnen das Neue Forum."
Dieser Text, eingemeißelt in eine alte Rathenow Gehwegplatte aus Granit, liegt eingelassen auf dem Märkischen Platz, dem Zentrum Rathenows, und erinnert an die Ereignisse des Herbstes 1989.
Der "Chronik der Wende im Kreis Rathenow" ist zu entnehmen, dass sich am 15. Oktober des Jahres 1989 sich erstmals Rathenower Bürger im Gemeindehaus Süd trafen, um über die derzeitige Situation zu diskutieren. Aus den ständigen Teilnehmern dieser Treffen heraus entwickelte sich die Basisgruppe des Neuen Forum. Diese Gruppe wurde zum Sammelpunkt für alle politischen Kräfte, die das System verändern wollten.
Bereits wenige Tage später, am Sonntag, dem 5. November 1989, zogen mehrere tausend Menschen nach einem vorherigen Friedensgebet in der Lutherkirche mit brennenden Kerzen zum Märkischen Platz. Schweigend.
Die erste freie Demonstration fand am darauffolgenden Dienstag, dem 7. November 1989, statt. Der Demonstrationszug führte von der Lutherkirche über den Friedrich-Ebert-Ring an SED und KD-MfS vorbei zum Märkischen Platz.
Zeitzeugen erinnern sich und berichten von einer guten, gelösten Stimmung. Überall sah und traf man Bekannte. Es war eine schier unübersehbare Menschenmasse.
Am Abend des 9. November 1989 hält Günter Schabowski, Mitglied des Politbüros der SED, in Ostberlin eine Pressekonferenz vor Journalisten aus aller Welt, die vom Fernsehen der DDR live übertragen wird.
Auf Nachfrage eines Journalisten holt Günter Schabowski um 18.53 Uhr einen Zettel aus seiner Tasche heraus, den er vor der Pressekonferenz von Egon Krenz, dem Nachfolger Erich Honeckers, bekommen hat und liest stockend vor:
"Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen - Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse - beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt.
Die zuständigen Abteilungen Paß- und Meldewesen der Volkspolizeikreisämter in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne daß dabei noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen."
Was dann geschieht ist allgemein bekannt und der 9. November 1989 geht als einer der schönsten Tage der jüngeren deutschen Vergangenheit in die Geschichte ein.
Auch wenn der ganz große Aufschwung in den Jahren von 1990 bis 1992 in Rathenow ausbleibt, gibt es dennoch zahlreiche Veränderungen im Stadtbild, die den ungebrochenen Aufbauwillen dokumentieren. Die Stadtverwaltung führt ein großes Renovierungs- und Restaurierungsprogramm an den ihr unterstellten Bildungseinrichtungen durch. Ebenfalls wird mit der Sanierung alter Wohnhäuser begonnen.
Die folgenden Jahre stehen ganz im Zeichen der weiteren baulichen Veränderung Rathenows. Es geht hierbei zum einen um die Wiederbelebung von Altstandorten, zum Beispiel die Bahnhofstraße, zum anderen auch um die Schaffung neuer Wohngebiete.
Mit der Rekonstruktion der B188, dem Neubau der "Langen Brücke" und dem Schnellbahnbau Berlin-Hannover verbessert sich die Infrastruktur in erheblichem Maße.
Das Wahrzeichen der Stadt, die Sankt-Marien-Andreas-Kirche, wird saniert und der neu aufgebaute Kirchturm begrüßt nun alle Gäste und Bürger der Stadt bereits aus der Ferne.
Ebenfalls wird der Bismarckturm rekonstruiert und ein neues Wegesystem auf dem Weinberg angelegt.
Das Jahr 2001 steht ganz im Zeichen des Jubiläums "Rathenow 2001 - 200 Jahre optische Industrie in Deutschland", das an den Beginn der industriell geprägten Fertigung von optischen Erzeugnissen erinnern soll. Vor 200 Jahren, am 10. März 1801, erhielt der Rathenower Pfarrer Johann Heinrich August Duncker das königlich-preußische Privileg zum Führen einer Optischen Industrie-Anstalt und gleichzeitig das Patent für die von ihm erfundene Vielschleifmaschine. So wurde Rathenow zur Wiege der optischen Industrie in Deutschland. Dunckers Nachkommen Eduard Duncker und Emil Busch führten das Unternehmen erfolgreich weiter und lösten eine Entwicklung aus, die den Weltruf der Stadt Rathenow als "Stadt der Optik" begründete.
Nach und nach wächst Rathenow auch als touristischer Standort. Mit der Landesgartenschau im Jahr 2006, zu der über 480.000 Besucher in die Stadt kamen, war der vorläufige Höhepunkt erreicht.
Die Gesellschafterversammlung der Deutschen Bundesgartenschau-Gesellschaft entschied am 15. November 2007 in Köln, dass die Bundesgartenschau im Jahr 2015 in der Havelregion stattfindet. Die Städte Brandenburg an der Havel, Premnitz, Rathenow und Havelberg sowie das Amt Rhinow haben sich gemeinsam um die Austragung beworben
Das Konzept, aber auch der Willen und die Entschlossenheit der Bewohner der Havelregion haben die Jury überzeugt. Die Entscheidung fiel damals einstimmig. Die touristische Entwicklung der Region erhält so eine neue Qualität.
Das Gesicht der Stadt entwickelt und verändert sich stetig weiter. Neue Häuser werden gebaut, aber auch gerade alte, stadtbildprägende Gebäude werden saniert. Der Blick auf das Erhaltenswerte ist in den Mittelpunkt gerückt.
Leider hinterlässt die Zeit auch Spuren in den Gesichtern der Menschen. Mehr als 5.000 Arbeitsplätze gingen um 1990 herum verloren. Private Schicksale sind oftmals damit verbunden und so suchen viele Rathenower ihr Glück in der Fremde.
Von vormals knapp 31.000 Einwohnern zählt Rathenow aktuell etwa 24.600 Einwohner (mit Ortsteilen).
Seit dem 9. November 1989 ist viel geschehen. Die Stadt profitiert trotz einiger negativer Erfahrungen und Entwicklungen in erheblichen Umfang von der Wiedervereinigung.
Viel wichtiger aber ist, dass die Bürger angekommen sind im neuen Rathenow.
25 Jahre später gehen, laufen und schlendern die Menschen über den Märkischen Platz. Sie schauen auf das Kulturzentrum, die frisch sanierten Häuser im Umfeld und genießen die helle und freundliche Atmosphäre an diesem Ort. Einige schauen nach unten und entdecken die alte Gehwegplatte aus Granit. Eingemeißelt lesen sie die Zeilen der Erinnerung an die damaligen Geschehnisse.
Der Dank geht an all die Menschen, die diese friedliche Revolution ermöglicht haben.
Ich persönlich zähle mit Sicherheit zu den Gewinnern der Wendezeit und bin insbesondere der Bürgerschaft in meiner Heimatstadt dankbar, dass sie mir das Vertrauen schenkte, seit 2002 als Bürgermeister tätig zu sein.
Ronald Seeger
Bürgermeister